Opioid-Krise in den USA

Opioide sind die neue Pest der USA. Nachdem die Pharmaindustrie ein Heer von Abhängigen kreiert hat, sind inzwischen Drogenkartelle in die Bresche gesprungen. Sie überschwemmen Amerika mit Heroin und Fentanyl. Wie es zu dieser beispiellosen Krise kommen konnte und warum medizinisches Cannabis einen Hoffnungsschimmer bietet, haben wir für euch herausgefunden.

Publiziert bei Sensi Seeds

 
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Das Leichenhaus von Dayton, Ohio platzt aus allen Nähten. An manchen Tagen treffen die leblosen Körper im Stundentakt ein. „Wir sind voll ausgelastet“, bestätigt der zuständige Direktor der Gerichtsmedizin auf Anfrage. Zusammen mit seinen Nachbarn Kentucky, Pennsylvania und West Virginia gehört der US-Bundesstaat Ohio zu denjenigen Regionen des Landes, die am härtesten von der Opioid-Krise getroffen werden.

Im Internet kursieren Videos von Süchtigen, die in aller Öffentlichkeit kollabieren – im Supermarkt, an Tankstellen, in Bussen. Das Ausmaß der Krise ist so groß, dass Donald Trump im vergangenen Herbst einen nationalen Notstand ausgerufen hat. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im Jahr 2016 starben 64 000 Menschen an einer Überdosis. Das sind mehr Tote als zu den schlimmsten Zeiten von AIDS und mehr als in den Kriegen von Vietnam, Irak und Afghanistan zusammen.

Anders als früher ist die aktuelle Drogen-Epidemie kein Problem der Innenstädte. Betroffen sind vor allem Vorstädte und ländliche Gebiete. Orte, die sich nach der Wirtschaftskrise vor zehn Jahren nie richtig erholt haben. Und anders als zu den Hochzeiten von Crack trifft es nun die weiße Bevölkerung des Landes. Millionen von ihnen sind süchtig nach opioidhaltigen Schmerzmitteln, Heroin und Fentanyl. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?

$$$$$$$$$$$$$ It is Bonus Time in the Neighborhood!

Die 50er Jahre markierten eine Zeit des Aufbruchs. Nichts schien unmöglich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Als in Deutschland die ersten Käfer gebaut wurden, fuhren die Amerikaner bereits in dicken Autos zum Einkaufen. Nirgends war die Aufbruchstimmung besser zu spüren als in New York. Manhattan erlebte einen beispiellosen Bauboom, die Türme in Midtown stürmten wieder zum Himmel.

Hoch hinaus wollten auch die drei Brüder Arthur, Mortimer und Raymond Sackler. 1952 kauften sie das kleine Arzneimittelunternehmen Purdue Frederick und legten damit den Grundstein für ihren späteren Reichtum. Die ersten Jahre waren hart, mit Abführmitteln und Ohrenschmalzentferner ließ sich nicht viel Geld verdienen. Erfolgsversprechender war das Geschäft mit Schmerzmitteln.

1996 lancierte das inzwischen Purdue Pharma genannte Familienunternehmen OxyContin, ein starkes Schmerzmittel, das auf dem Opioid Oxycodon beruht. Oxycodon war bereits in anderen Schmerzmitteln zu finden, jedoch nicht in purer Form und nicht in so hoher Konzentration. Auf den Markt kamen nicht nur 10 mg Tabletten, sondern auch solche mit 80 und 160 mg Oxycodon, die Barry Meier in seinem Buch „Pain Killer: A ‚Wonder‘ Drug´s Trail of Addiction and Death“ mit den folgenden Worten beschreibt: „In Bezug auf die narkotische Feuerkraft war OxyContin eine Atomwaffe.“

Das FDA (Food and Drug Administration) hatte OxyContin eingestuft als Substanz der Klasse II, womit per Definition ein hohes Missbrauchs- und Abhängigkeitspotenzial besteht. Trotzdem positionierte Purdue seine Tabletten als Mittel gegen allerlei Schmerzen. In der Pressemitteilung zur Markteinführung heißt es: „Die Angst vor Abhängigkeit ist übertrieben.“ Ein patentierter Mechanismus, der dafür sorgt, dass der Wirkstoff nur langsam freigesetzt wird („Contin“ steht für continous release), sollte den Missbrauch verhindern.

1996 startete Purdue eine groß angelegte Werbekampagne, um Ärzte, Großhändler und Konsumenten von den Vorzügen der neuen Wunderpillen zu überzeugen. In der Kampagne ist eine glückliche Großmutter zu sehen, die dank OxyContin ihre Rückenschmerzen in den Griff bekommen hatte und endlich wieder mit ihren Enkelkindern spielen konnte.

Arztpraxen wurden mit fast 35 000 Starter-Coupons versorgt, die kostenlos gegen Tabletten eingetauscht werden konnten. Die eigenen Vertreter lockte man mit dem großen Geld. Buchstäblich. Der Betreff einer E-Mail lautete: „$$$$$$$$$$$$$ It is Bonus Time in the Neighborhood!“ Gleichzeitig finanzierte Purdue Fortbildungen, Tagungen und Vereinigungen.

Wer hat noch nicht, wer will nochmal?

Die gut geölte Marketingmaschine traf voll ins Schwarze. Anfängliche Skepsis wich Begeisterung. Manche Ärzte begannen die bunten Tabletten wie Smarties zu verschreiben. Ihre Patienten waren zufrieden und kamen zurück für mehr. Hier offenbart sich eine tragische Schwäche des US-amerikanischen Gesundheitssystems: Es ist darauf ausgelegt das zu tun, was Patienten wollen und nicht unbedingt das, was für sie am besten ist.

Schon kurz nach der Markteinführung von OxyContin tauchten die ersten Tabletten auf dem Schwarzmarkt auf. Schnell war auch klar, wie der gesamte Wirkstoff auf einmal freigesetzt werden kann. Man musste die Tabletten lediglich zerstoßen. Konsumenten begannen „Oxys“ zu schnupfen und zu spritzen. Doch auch der orale Gebrauch führte bei vielen direkt in die Abhängigkeit.

2007 bekannte sich Purdue Pharma für schuldig, die Öffentlichkeit über die Suchtgefahren von OxyContin irregeführt zu haben. Das Unternehmen wurde auf eine Summe von 634 Millionen Dollar verklagt. Ein Klacks im Vergleich zu den 35 Milliarden Dollar, welche die Sacklers mit ihrem Kassenschlager verdient haben sollen. Wie ging es danach weiter?

Purdue steckte mehr Geld in seine Lobbyarbeiten als je zuvor. Zwischen 2006 und 2015 hat die Pharmaindustrie fast 900 Millionen Dollar für Lobbying ausgegeben ­– achtmal mehr als die Waffenlobby in der gleichen Zeit.

Amerikas Appetit auf Opioide war noch längst nicht gestillt. Die Verkaufszahlen schossen in die Höhe. Und das Rad drehte sich munter weiter. 2012 stellten Ärzte 259 Millionen Rezepte für opioidhaltige Medikamente aus ­– genug um jedem Erwachsenen im Land eine Tablettendose in die Hand zu drücken! Es war der vorläufige Höhepunkt des Verschreibungswahns.

Erst Pillen, dann Heroin

Nachdem die amerikanische Seuchenschutzbehörde CDC (Centers for Disease Control and Prevention) neue Richtlinien für die Verschreibung von Opioiden erlassen hatte, begann die Anzahl Rezepte zu sinken. Was passiert in einem Markt, wo die Nachfrage das Angebot übersteigt? Die Preise steigen.

Dies wiederum rufte mexikanische Drogenkartelle auf den Plan. Sie überschwemmten Amerika mit billigem Heroin. Dabei sind die sogenannten „Xalisco Boys“ ähnlich vorgegangen wie zuvor die Marketingmenschen von Purdue. Basierend auf öffentlich zugänglichen Statistiken platzierten sie ihr Produkt in armen, bildungsschwachen Regionen, wo überproportional viele Arbeitsunfälle registriert werden. Dort verteilten sie bei ihrem Markteintritt gratis Proben.

Die Strategie ging auf: Ungefähr eine Million Amerikaner konsumieren heute regelmäßig Heroin. Bei 80 % der neuen Konsumenten begann die Sucht mit legalen Schmerzmitteln. Heroin stammt aus dem Milchsaft des Schlafmohns, der in Mexiko nur schwer anzubauen ist. Um die enorme Nachfrage bewältigen zu können, begannen die Kartelle, Fentanyl ins Heroin zu mischen. Fentanyl ist ein vollsynthetisches Opioid, das auf dem chinesischen Schwarzmarkt relativ einfach erhältlich ist.

Danny, ein langjähriger Heroinkonsument aus Philadelphia, erinnert sich, als die neue Droge erstmals auf dem Markt auftauchte: „Die Menschen wussten nicht, womit sie es zu tun hatten … Sobald die Dealer sahen, dass Menschen wie Fliegen umfielen, sagten sie sich: ‚Wir machen etwas falsch‘. Jetzt kriegen sie den Mix besser hin.“ Da kann man Danny leider nur bedingt recht geben.

Praktisch alle Konsumenten, die im Leichenhaus von Dayton enden, sind an einer Fentanyl-Überdosis gestorben. Ein Ende ist nicht in Sicht. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Drogentoten weiter ansteigen wird.

Droht auch außerhalb der USA eine Opioid-Krise?

Patrick Radden Keefe vom New Yorker war es, der die skrupellosen Geschäfte von Purdue Pharma entlarvte. Seitdem ist das Unternehmen in den USA in Ungnade gefallen. Die Sacklers führen weiterhin ein Doppelleben. In der Öffentlichkeit treten sie als Gutmenschen auf und finanzieren mit ihrem Blutgeld weltbekannte Museen, Galerien und Universitäten.

Gleichzeitig haben sie ein Geflecht von neuen Firmen gegründet, um ihr Opioid-Geschäft ins Ausland zu verlegen. Unter dem Namen „Mundipharma“ sind Purdues Eigentümer jetzt vor allem in Staaten wie China, Mexiko und Brasilien aktiv. Keith Humphrey, Psychiater an der Stanford University, warnt vor einer Globalisierung der Opioid-Krise.

Mittlerweile macht sich auch an anderen Fronten Widerstand breit. Die weltbekannte Fotografin Nan Goldwin ist über OxyContin selbst in die Sucht gerutscht. Nach einem schmerzvollen Entzug hat sie den Drogen abgeschworen. Und den Sacklers den Krieg erklärt. Auf Twitter und Instagram fordert sie, dass die Familie einen Teil ihres Vermögens in Sucht- und Präventionsprogramme steckt.

Medizinisches Cannabis als Ersatz für Opioide

Goldin hatte Glück im Unglück. Als vermögende New Yorkerin konnte sie sich eine renommierte Entzugsklinik leisten, um ihr Drogenproblem in den Griff zu bekommen. Und auch wenn man ihre Kampagne gegen die Sacklers nur begrüßen kann: es wäre zu einfach, der Pharmaindustrie die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben.

Amerikas Opioidkrise ist in erster Linie eine soziale Krise. Perspektivenlosigkeit und Langeweile sind der perfekte Nährboden für Sucht. Was Menschen brauchen sind Jobs, die eine Aussicht auf ein würdiges Leben bieten. Dazu gehört auch der Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem. In ländlichen Gebieten ist die medizinische und therapeutische Versorgung, welche Süchtige so dringend nötig hätten, katastrophal. Gesprächstherapien und alternative Behandlungsmethoden finden kaum Beachtung.

Dabei könnte gerade medizinisches Cannabis einen Ausweg aus der Krise darstellen. Zahlreiche Studien und Patientenberichte verweisen auf die schmerzlindernden Eigenschaften von THC und CBD. Im Rahmen einer Studie untersucht die University of New Mexico derzeit, ob chronische Schmerzpatienten ihren Opioid-Konsum durch Cannabis reduzieren können. Erste Ergebnisse stimmen positiv. Forscher von der University of Georgia konnten zudem nachweisen, dass weniger Schmerzmittel verschrieben werden, wenn Menschen Zugang zu medizinischem Cannabis haben.

Hinsichtlich der Wirkung von Cannabioniden auf eine Opiatabhängigkeit gibt es ein paar interessante tierexperimentelle Hinweise. CBD hemmte in einer Studie die Belohnungswirkung von Morphin. In einer anderen Studie schwächte CBD das Suchverhalten von Ratten nach Heroin. Der positive verzögerte Effekt ließ sich auch noch zwei Wochen später beobachten, was einen Rückfall vorbeugen könnte.

Hoffnung macht auch eine neue Forschungsinitiative der UCLA. Laut dem Studienleiter Jeff Chen gibt es Hinweise, dass Cannabis Menschen helfen könnte, von Pillen und Heroin wegzukommen: „Wenn es eine chronische Schmerzkomponente gibt, kann Cannabis die chronische Schmerzkomponente ansprechen. Wir wissen auch, dass Opioidabhängige viele neurologische Entzündungen haben, von denen wir glauben, dass sie den Suchtzyklus antreiben. Frühe Studien weisen darauf hin, dass Cannabinoide Entzündungen im Gehirn abschwächen.“ Tatsächlich berichten viele Opioidabhängige, dass sie durch die Verwendung von medizinischem Cannabis die Abstinenz leichter durchalten.

Dennoch behauptet die Bundesregierung, dass Cannabis keinerlei medizinisches Potenzial hat. Und lässt sich von der Pharmaindustrie weiterhin fürstlich bezahlen.

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